Von Engeln und Zauberern | By : dime Category: German > Harry Potter Views: 4160 -:- Recommendations : 0 -:- Currently Reading : 0 |
Disclaimer: I do not own the Harry Potter book and movie series, nor any of the characters from it. I do not make any money from the writing of this story. |
[edited 11.01.2014 – wieder in voller Länge; neu formatiert]
Murdered in Munich, crucified in Rome
Was killig time on the long road home.
Let nothing bleed into nothing
And did nothing at all...
-Fate's Warning, Pleasant shade of Grey
Mit zittrigen Händen schenkte sich Tom einen Kaffe ein. Er stand in der kleinen Küche seiner Zweizimmerwohnung, die sich direkt an seine Praxis anschloss. Die Tasse fest umklammernd setzte
er sich an den Küchentisch. Sein Blick fiel auf die Karte, die Myriel ihm geschickt hatte, als er durch die Führerscheinprüfung gefallen war.
"Das Leben ist das, was geschieht, während wir damit beschäftigt sind, andere Pläne zu machen."
Er seufzte. Die Ironie der Karte heiterte ihn gewöhnlich auf, wenn er sich mal wieder in Selbstmitleid verlor, doch nach seinen Alpträumen reichte meistens auch sie nicht aus, um seine dunklen Gedanken zu zerstreuen.
Er hatte jetzt zwar schon länger nicht mehr von damals geträumt - es war ja auch schon über fünfzehn Jahre her -, doch eigentlich war es nicht verwunderlich.
Das Gespräch mit Lydia und das Treffen mit ihrem Großvater am Vortag hatten seine Vergangenheit mit einem Paukenschlag wieder in sein Leben gebracht. Tom war in der Regel ein kompetenter Therapeut, den so schnell nichts aus der Ruhe brachte; doch als der Großvater seiner kleinen Patientin sich freundlich als 'Herr Lovegood' vorgestellt hatte, wäre ihm vor Schreck beinahe der Unterkiefer heruntergeklappt.
Neville und Lunas Tochter! Oh mein Gott!
Und die beiden kämpfen allem Anschein nach für den Orden gegen Voldemort. Wieso ist Lydia zu mir gekommen? Was mag das Mädchen nur gesehen haben, das es so schockiert hat? Und wieso hat Lydia seitdem eine verletzte Schlange -ausgerechnet!- bei sich aufgenommen und versteckt sie vor ihren Eltern?!
Das Mädchen fiel nach Aussage des Großvaters immer wieder für einige Minuten in Apathie, verlor sein Lächeln und bekam unerklärliche Panikattacken. Tom war beunruhigt; ihm gegenüber hatte das Mädchen fröhlich und unbekümmert gewirkt. Lydia hatte dankbar ein Stück Schweizer Schokolade gemampft, das Tom ihr gegeben hatte, und nur hin und wieder etwas ernster geguckt. Versteckte sie ihre Probleme?
Bei einem anderen Kind hätte ich vielleicht auf Missbrauch getippt- immerhin ist das mein Spezialgebiet, und mein Freund wird die Familie nicht ohne Grund gerade an mich verwiesen haben - aber Neville und Luna? Die könnten doch niemals... oder?
Er runzelte die Stirn. Er hatte, seit er damals aus dem Haus der Dursleys geflohen war, viel Schlimmes erlebt und gelernt, dass man den Leuten nicht immer ansah, zu was sie fähig waren. Gerade in seiner Laufbahn als Kinderpsychotherapeut hatte er die unglaublichsten Geschichten zu hören bekommen. Dennoch, irgendwie war er sich sicher, dass der Fall sich hier anders verhielt. Immerhin schickten die beiden ihre Tochter ja sogar zu einem Muggelheiler, also mussten sie wirklich um ihr Wohl besorgt sein und versuchten nicht, eigene Vergehen zu verstecken.
Dass sie als Vorsichtsmaßnahme einen Bann über ihre Tochter gelegt hatten, der verhindern sollte, dass Lydia über die Zaubererwelt sprach, konnte er gut verstehen, sie war ja vom Typ her ein eher geschwätziges Mädchen, und wenn sie auch nur einen Bruchteil der Zerstreutheit eines ihrer Elternteile geerbt hatte... Er musste unwillkürlich lächeln.
Doch selbst mit dem Spruch hatte sie genug verraten, dass Tom seine Schlüsse ziehen konnte. Voldemort war also noch immer mächtig...
Hatte er vielleicht mit Lydias traumatischem Erlebnis zu tun? Und was war das für eine Schlange, von der sie erzählt hatte? Er hoffte, Lydia würde die Schlange tatsächlich mitbringen, damit Tom sie wie versprochen 'von einem Freund gesund pflegen lassen' konnte. Sie könnte ihm vielleicht sagen, was vorgefallen war. Doch falls nicht, würde er Luna und Neville überreden müssen, den Bann von Lydia zu nehmen. Er konnte nicht mit ihr arbeiten, wenn sie derart gehemmt war.
Er seufzte. Die Aussicht, mit seinen ehemaligen Freunden reden zu müssen, behagte ihm gar nicht. Sicher, sie würden ihn nicht erkennen, er hatte sich sehr verändert; doch ihr erneutes Auftauchen in seinem Leben öffnete alte Wunden, die nie richtig verheilt waren.
Er hob den Blick und betrachtete sein Gesicht in dem kleinen Spiegel am Küchenschrank. Blaue Augen sahen ihn unter langen, blonden Ponyfransen hervor nachdenklich an. Eine kleine Furche in den Mundwinkeln gab seinem Gesicht einen ewig traurigen Ausdruck, selbst, wenn er lächelte. Nein, mit Harry Potter hatte er wirklich nichts mehr gemeinsam!
Außer einer Vergangenheit, auf die ich gerne verzichtet hätte.
Wieder seufzte er. "What's done is done and cannot be undone", schoss es ihm durch den Kopf. Lady Macbeth.
Er hatte sehr viel gelesen, seit er begonnen hatte, dauerhaft in der Muggelwelt zu leben. Er hatte eine Schule besucht und einen gar nicht mal so schlechten Abschluss gemacht. Während dieser Jahre hatte er jede freie Minute, in der er nicht lernte, mit Lesen verbracht.
Nur hin und wieder ließ er sich von Myriel oder von seinen Freunden, die er trotz seines schweigsamen und verschlossenen Wesens gefunden hatte, ins Kino oder auch mal in die Disco oder in eine Kneipe entführen. Manchmal genoss er diese Abwechslung, doch meistens fühlte er sich am wohlsten, wenn er in ein Buch versinken und die Realität um sich herum komplett vergessen konnte.
Seinen neuen Namen hatte er auch aus einem Buch. Moon Palace. Tatsächlich war es das Buch, das er an jenem Abend gelesen hatte, als... sein früheres Leben geendet hatte.
Effing Tom. The man who fucked up his life.
Er fand das sehr passend für jemanden, der sich selbst in die Verbannung geschickt hatte, als er seinen Onkel ermordete.
Der Vorname Tom war natürlich pure Selbstironie (was Myriel besser nie erfuhr, denn sie hatten sich schon über den Nachnamen ausgiebig gestritten). Tom, wie sein größter Widersacher, der Mann, der Menschen tötete, ohne mit der Wimper zu zucken. Auch er hatte getötet. Was unterschied ihn jetzt noch von dem Monster, das er lange Jahre verabscheut, gehasst und gefürchtet hatte?
Nein, so durfte er nicht denken. Myriel würde rasen, wenn sie es erführe. Myriel... Vielleicht sollte er sie anrufen. Es war Samstag, vielleicht hatte sie ja Zeit für ein kleines Schwätzchen über einer Tasse Tee.
Myriel bedeutete ihm sehr viel. Er hatte sich nach der Schule entschieden, Medizin und Psychologie zu studieren, um anderen helfen zu können, wie sie es für ihn getan hatte.
Ja, Myriel würde ihm jetzt gut tun.
Tom sah nervös aus. Über den Rand ihrer dampfenden Tasse Darjeeling-Tee hinweg betrachtete Myriel ihn aufmerksam. Der junge Mann hatte sich schon lange nicht mehr bei ihr gemeldet. Meistens war sie diejenige, die ein Treffen vorschlug; dass er es tat, kam nur selten vor und bedeutete zumeist nichts Gutes. Das letzte Mal war er wegen der Behandlung eines Schützlings, in dem er sich selbst wiedererkannt hatte, so verstört gewesen, dass es gefährlich geworden war. Er hatte am Tisch gesessen und sich einen Apfel mit dem Messer geschält.
Dem Messer, mit dem er sich vor so vielen Jahren beinahe das Leben genommen hatte.
Sie hatte bis dahin nicht gewusst, dass er es aufbewahrt hatte. Er hatte entschuldigend gelächelt und gesagt, er habe ihre Worte damals sehr ernst genommen, als sie ihm erklärt hatte, dass er sich doch wenigstens mal anhören könne, was sie ihm zu sagen hatte; wenn er sich danach immer noch das Leben nehmen wollte, könne er das ja tun. Tatsächlich hatte sie ihn damals überzeugen können, dass er noch einen Grund hatte, weiter zu leben; das Messer aber hatte er behalten, zur Erinnerung daran, dass er sich einst hatte umbringen wollen - und daran, warum er es nicht getan hatte.
Heute spielte er zwar nicht mit dem Messer, doch er sah beinahe genauso bedrückt aus wie damals.
"Ich bin froh, dass du kommen konntest, Myriel", eröffnete er nun das Gespräch. "Du hast bestimmt schon herausgefunden, dass es einen Grund dafür gibt. Tut mir leid, dass ich mich immer nur melde, wenn ich etwas von dir will." Er lächelte verlegen, doch sie wischte seine Entschuldigung mit einer lässigen Handbewegung zur Seite. "Ach, Unsinn. Ich wäre beleidigt, wenn du mit deinen Problemen nicht zu mir kämst."
Tom lächelte dankbar und fuhr fort.
"Ich hatte heute Nacht wieder meinen Alptraum. Es ist gestern so einiges passiert, das meine Vergangenheit wieder heraufbeschworen hat, also ist das vermutlich nicht wirklich verwunderlich. Wie auch immer, ich musste mal wieder an deine Worte denken, dass ich irgendwann über alles reden muss, sonst werde ich den Schatten meiner Vergangenheit nie los. Ich habe mich viele Jahre davor gedrückt und versucht, mein früheres Leben komplett zu ignorieren. Doch das geht jetzt nicht mehr. Warum, wirst du verstehen, wenn ich dir alles erzählt habe.
Du weißt, ich vertraue dir wie keinem Menschen sonst. Du hast mir mehr als einmal das Leben gerettet und du verdienst es wirklich, die Wahrheit zu erfahren. Danke, dass du mir die Zeit gegeben hast, bis ich bereit war, darüber zu reden, und mich dennoch so vollkommen akzeptiert hast. Das rechne ich dir wirklich hoch an. Nun, jetzt bin ich endlich soweit. Bist du bereit, die ganze Wahrheit über meine Vergangenheit zu hören?"
Myriel sah den jungen Mann mit großen Augen an und ihr Herz machte einen Sprung. Er hatte es geschafft! Er hatte es tatsächlich geschafft, die Barriere zu durchbrechen, die er um sein Herz errichtet hatte, und würde nun endlich auch den letzten Schritt wagen, der ihm die Rückkehr ins Leben ermöglichen sollte - nach fast sechzehn Jahren.
Es war ein langer Weg gewesen, seit sie ihn damals gefunden hatte, und so manches Mal hatte sie an ihren Fähigkeiten als Therapeutin und an ihrem Wert als Freundin gezweifelt. Als sie ihn das erste Mal getroffen hatte, war sie sich nicht einmal sicher gewesen, ob er den Tag überleben würde...
~Flashback~
Myriel gähnte. Sie war den ganzen Abend lang mit Freunden beim Chinesen gewesen und hatte viel zu viel gegessen. Frank, ein ehemaliger Kommilitone, hatte als letzter aus ihrer Clique endlich seine eigene Praxis eröffnet und alle zum Feiern eingeladen. Zufrieden grinste sie in sich hinein.
Jetzt können wir uns tatsächlich gegenseitig therapieren, wie wir es früher immer im Scherz gesagt haben.
Sie bog um die Ecke und bummelte gemächlich die Straße hinunter. Es war schon spät und die Straße war menschenleer, doch Myriel hatte keine Angst. Ihr war noch nie etwas passiert, vielleicht hatte sie ja einen eigenen Schutzengel; außerdem machte sie seit Jahren Karate und hatte einen Schriller in der Tasche, um Hilfe herbeirufen zu können.
Sie ging gerne nachts spazieren, wenn die Straßen Londons einsam und verlassen da lagen. Sie genoss die Ruhe und die klare Luft, die tagsüber meist schwer von Autoabgasen war.
Sie atmete tief durch und lauschte der Stille der Nacht.
Plötzlich wurde die Stille durch das Geräusch von Schuhen auf dem Asphalt vor ihr durchbrochen. Aus einer dunklen Seitengasse traten zwei Männer hervor, vertieft in ein raues Gespräch.
"Das sollten wir öfter machen", sagte der eine.
Der andere lachte. "Schon, aber man verdient so wenig dabei. Er hatte gerade mal zwanzig Pfund..."
"Aber es macht mehr Spaß als in einen Laden oder ein Haus einzubrechen."
Die Art, wie er das Wort 'Spaß' betonte, gefiel Myriel gar nicht - wie auch der Rest der Unterhaltung. Sie blieb im Schatten eines Eingangs stehen und lauschte, während die beiden Männer an ihr vorüber gingen, ohne sie zu bemerken.
"Meinst du, er tut es?"
"Schwer zu sagen. Es scheint für ihn ja nicht das erste Mal gewesen zu sein" - der andere ließ ein bellendes Lachen hören - "- und er hat es ja offensichtlich überlebt, also wird er vielleicht auch jetzt zu feige sein, es zu beenden."
"War jedenfalls verdammt anständig von dir, ihm dein Messer da zu lassen. Das war doch bestimmt teuer?"
Myriel hörte die Antwort auf diese Frage nicht mehr, denn die beiden Männer waren um die nächste Straßenecke verschwunden.
Nein, das klang wirklich nicht gut.
Vorsichtig näherte sie sich der Gasse, aus der die beiden Männer gekommen waren. Dort war es sehr dunkel; sie blieb einen Moment stehen, um ihre Augen an die schlechten Lichtverhältnisse zu gewöhnen, als sie ein leises Wimmern wahrnahm. Es schien hinter einer Mülltonne hervor zu kommen. Sie näherte sich langsam, überzeugt, dass ihr das, was sie gleich sehen würde, gar nicht gefallen würde.
Sie hatte sich getäuscht. Was sie sah, weckte Gefühle in ihr, die mit 'nicht gefallen' nicht einmal ansatzweise zu beschreiben waren. Entsetzen, Angst, Abscheu, Trauer, Hass und tiefstes Mitgefühl stürzten zugleich auf sie ein und ließen sie einen Moment lang einfach nur mit aufgerissenem Mund und geweiteten Augen dastehen.
Dort vor ihr lag in einer Mischung aus Unrat, Blut und anderen Flüssigkeiten ein Junge von etwa vierzehn Jahren. Sein Gesicht war zerschunden, seine Kleidung zerfetzt und ein Arm stand in einem seltsamen Winkel ab, er war offensichtlich gebrochen. Er schien nur halb bei Bewusstsein. Seine Hand hielt ein Messer fest umklammert, das auf seinem Unterarm ruhte und sich leicht in die Haut gegraben hatte. Scheinbar hatte ihm die Kraft gefehlt, tiefer zu schneiden. Mit einem erneuten Wimmern krümmte der Junge sich noch mehr in sich selbst zusammen, wobei der Blick auf seinen Hintern frei wurde. Myriel keuchte. Es konnte keinen Zweifel geben, was die beiden Männer dem Jungen angetan hatten.
Myriel brachte den Jungen ins Krankenhaus. Er trug keinen Ausweis bei sich - den hatte man ihm vermutlich gestohlen - und als er wieder zu Bewusstsein kam, wollte er seinen Namen auch nicht preisgeben. Er schien panische Angst zu haben, dass jemand herausfinden könnte, wer er war. Er hatte sie angefleht, ihn nicht zu verraten, die Männer nicht anzuzeigen, die ihn so zugerichtete hatten, und ihn aus dem Krankenhaus zu nehmen. Sie hatte lange mit sich gerungen, doch schließlich hatte sie den meisten seiner Wünsche nachgegeben. Er hatte so offensichtlich panische Angst vor Entdeckung, dass sie verstand, dass mehr dahinter stecken musste.
Als er schließlich gesund genug war, um aus dem Krankenhaus entlassen zu werden, hatte sie ihn zu sich nach Hause geholt. Ihr Vater war reich genug, dass sie den Krankenhausaufenthalt des Jungen hatte zahlen können, ebenso war ihre Wohnung groß genug, um einen zusätzlichen Bewohner zuzulassen. Sie wusste selbst nicht recht, warum dieser Junge sie so sehr beschäftigte. Andere Patienten waren ihr doch auch nie auf so persönlicher Ebene wichtig gewesen.
Vielleicht war es der schreckliche Anblick, den er geboten hatte, als sie ihn fand; es hatte ihr das Herz zerrissen. Vielleicht hatte auch die Aura eines schrecklichen Geheimnisses, die ihn umgab, damit zu tun. Jedenfalls hatte sie schon in den ersten Tagen, die er im Krankenhaus lag, beschlossen, dass sie sich um ihn kümmern wollte. Wie um einen Sohn.
Mit Hilfe des Vaters einer Freundin aus der Uni (ein Hoch auf Vitamin B!) hatte sie es geschafft, dem Jungen einen neuen Ausweis mit dem Namen, den er sich ausgesucht hatte, zu besorgen. Tom Effing. Sie hatte Moon Palace gelesen, als er einmal erwähnte, dass ihm das Buch gefiel, und war mit dem Nachnamen gar nicht einverstanden gewesen; doch Tom (seinen echten Vornamen hatte er ihr nie verraten) war hart geblieben. Er hatte diesen Nachnamen gewollt und keinen anderen. Wofür er sich damit selbst bestrafen wollte, hatte sie erst Monate später erfahren, als er ihr endlich verriet, was sein eigener Onkel ihm angetan hatte - und dass er ihn umgebracht hatte, als er es ein zweites Mal tun wollte.
Dass er wenige Tage später auf der Straße von den beiden Männern erneut vergewaltigt worden war, erschien ihr nach seiner Erzählung nicht nur als böse Laune des Schicksals.
Er hatte sich nach der Flucht aus dem Haus seiner Verwandten mit ein paar Scheinen, die er in einem Moment unerklärlicher Geistesgegenwart aus der Tasche seines Onkels mitgenommen hatte, bis nach London durchgeschlagen, wo er sich eine Käppi, die er tief in die Stirn gezogen hatte, und Haarfärbemittel gekauft hatte, um sein Äußeres zu verändern. Danach jedoch wusste er nicht mehr weiter. Wohin sollte er gehen? Niemand durfte ihn bemerken, denn in seinen Augen war er ein Mörder und würde womöglich eingesperrt werden, wenn man ihn fände.
Im Laufe der Wochen, die Tom brauchte, um die Geschehnisse zu verarbeiten und sich ihr nach und nach anzuvertrauen, hatte sie begriffen, dass er nichts gegen das Gefängnis an sich hatte, ja, sogar eigentlich für den Mord bestraft werden wollte und darunter litt, dass es ihm unmöglich war, sich zu der Tat zu bekennen. Warum das so war, hatte er nie direkt ausgesprochen, doch seit er von der Ermordung seiner Eltern erzählt hatte, hatte sie den Eindruck bekommen, dass seine Familie mit der Mafia oder ähnlich mächtigen Gestalten zu tun haben musste, die ihn ausfindig machen und umbringen würden, wenn sie in der Zeitung von einer Gerichtsverhandlung seines Falles lasen. Deshalb also wollte oder konnte er sich nicht stellen.
Stattdessen war er in den Gassen von London abgetaucht. Sein Geld war bald aufgebraucht, sein Körper hatte sich noch immer nicht von der Misshandlung durch seinen Onkel erholt und jeden Tag fragte er sich, ob er denn ein Recht darauf habe, weiter zu leben, und ob es sich überhaupt lohnte.
Er musste ausgesehen haben wie der Inbegriff eines Opfers - und eine der ersten Tatsachen, die sie an der Uni gelernt hatte, war, dass Menschen, die die Ausstrahlung eines Opfers hatten, auch viel eher zu Opfern wurden.
Doch das war nun vorbei. Sie hatte viel mit Tom gearbeitet, hatte ihn wieder aufgerichtet, wenn er in Depressionen versunken war, und hatte versucht, seine Schuldgefühle zu bekämpfen, die er wegen des Mordes an seinem Onkel hatte - es war doch im Affekt, gewissermaßen sogar in Notwehr geschehen, da durfte er sich nicht so abgrundtief dafür verachten. Doch Tom hatte darüber hinaus noch andere Schuldgefühle, er schien es sich übel zu nehmen, dass er mit seiner Vergangenheit auch seine Freunde für immer hinter sich gelassen hatte. Er schien da einem Erwartungsdruck nicht gerecht zu werden, den sie nie ganz verstanden hatte.
~Flashback Ende~
Und heute war es soweit. Heute wollte er ihr endlich den wahren Grund verraten, warum er seine frühere Identität so komplett hinter sich gelassen hatte.
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